Peter Giesen zum Dritten: Die Beerdigung des Einzelhandels!

Meine liebe Trauergemeinde, liebe Kundinnen und Kunden, liebe Mitmenschen. Heute tragen wir… …
so beginnt das Video, das mein Interview-Gast Peter Giesen gedreht hat.
Es ging viral und polarisierte.
Was hat ihn angetrieben, die „Beerdigung des Einzelhandels“ zu betrauern?
Wie waren die Reaktionen in den Social Media Kanälen?

Klaus Weßendorf: Hallo und herzlich willkommen zur neuen Folge von „Wessi´s Digitalk“. Heute mal in neuen Räumlichkeiten mit einem bekannten Gast.

Peter Giesen: Hallo Klaus!

Klaus Weßendorf: Die dritte Folge, ich freue mich, Peter Giesen.

Peter Giesen: Ich freue mich auch.

Klaus Weßendorf: Hallo Peter! Und ein nicht so schönes Thema, ein spannendes Thema. Du hast ein geiles Video gedreht. Du hast die Beerdigung des Einzelhandels im Prinzip abgefilmt.

Peter Giesen: Ja.

Klaus Weßendorf: Ich habe jetzt kein Tempo, könnte dir mein Tuch geben. Was hat dich dazu bewogen? Es muss gebrodelt haben in dir.

Peter Giesen: Oh ja! Es hat gebrodelt. Und nicht nur bei mir, sondern bei vielen Einzelhändlern ja auch. Die Szenerie ist ja folgende, dass ich vor meinem Laden stehe, die Grabrede halte, und bei wirklich schaurigem Schnee, ein bisschen Schneegestöber den …

Klaus Weßendorf: Das Wetter hätte nicht besser sein können für sowas.

Peter Giesen: Es hätte nicht eisiger sein können in dem Moment. Und vier meiner Teamkollegen, die sich auch sofort bereit erklärt haben, den Sarg zu halten, damit wir wirklich so eine Szenerie darstellen können. Die Idee ist im Grunde ein, zwei Tage vorher geboren, weil alle kennen die oder viele kennen beispielsweise „Wir machen auf“-Schilder und dann „…merksam“. Schön und nett, interessiert nur niemanden. Und ich habe bewusst auch die Wortwahl der Grabrede wirklich bis aufs Wort genau so gemeint, wie ich es dort gesagt habe. Weil wir werden in eine Situation kommen der strukturellen Konsolidierungsprozesse, jetzt nicht erst seit dieser Pandemie, seit Corona da, sondern der ist schon seit 20 Jahren da. Wir sehen es an den Kaufhäusern, Marktanteile, Reduzierung von 4 auf 2 % von vor 20 Jahren, letztes Jahr, vorletztes Jahr. Jetzt noch weit runter bei Karstadt Kaufhof. Wir wissen alle …

Klaus Weßendorf: Macht das überhaupt Sinn, 468 Millionen noch in Karstadt zu stecken?

Peter Giesen: Nein, eben, genau das triggert uns Einzelhändler, ich habe knapp 50 Menschen zu bezahlen, diese Ungerechtigkeit. Weil ein großer Wert neben meiner Freiheit ist Ungerechtigkeit, ist Fairness. Und wenn wir Hilfe in Anspruch nehmen möchten, dann dürfen wir das nicht, weil wir strafrechtlich verfolgt werden, wenn wir beispielsweise wissen, dass unsere Gesellschaft in Zahlungsschwierigkeiten oder in Schwierigkeiten sich sowieso schon generell befindet.

Klaus Weßendorf: Du sprichst das Insolvenzrecht jetzt an.

Peter Giesen: Ja genau. Also jeder, den du draußen fragst, geht’s Karstadt Kaufhof gerade gut, sagen: Nein, mit Sicherheit nicht. Bekommt aber jetzt noch eine Vielzahl von Millionen, die sicherlich woanders besser hätten angedacht sein dürfen. Und ich habe auch bewusst die Bürgerinnen und Bürger hier in Deutschland angesprochen und die Kundinnen und Kunden, weil der Einzelhandel, überall sehen wir diese Schilder „Support your Local Dealer“, „Rettet den Einzelhandel“, „Unterstützt den Einzelhandel“, „Kauft regional“. Es macht nur niemand. Weil die Frage, die sich immer gestellt wird: Was ist die Währung für den Wert, den ich gerade für mich habe? In der Regel ist die Währung, die ich zu bezahlen habe, Geld, Freizeit, Komfort, Bequemlichkeit. Und das Shoppen hier auf dieser Couch im iPad ist doch wesentlich einfacher als mich in die nächste Buchhandlung zu begeben und dort ein Buch zu kaufen. Weil das kriege ich doch über Amazon ganz schnell. Überhaupt nichts gegen Amazon, weil bei mir schlagen zwei Herzen in einer Brust, Amazon mit Sicherheit, sonst wären wir jetzt schon nicht mehr im Einzelhandel tätig, weil dann wären wir schon pleite. Aber ich kann mich aber so positionieren, dass ich auch den Einzelhandel rette, indem ich einfach vielleicht mich von der Couch bequeme und mein Buch in der Buchhandlung oder mein Geschenk in einem Geschenkeladen oder meine Klamotten in der Modeboutique oder wo auch anders kaufe. Und wir werden das alles vermissen, wenn es nicht mehr da ist.

Klaus Weßendorf: Ich kann das nur empfehlen das Video, du hast das so wunderbar einprägsam gemacht. Hat der Einzelhandel noch eine Chance für dich oder hast du ihn jetzt wirklich zu Grabe getragen in deinen Augen?

Peter Giesen: Nein, sicherlich habe ich ihn nicht zu Grabe getragen, aber wir werden einen Wandel erleben, definitiv. Und Corona schiebt uns einfach wieder, ich hätte schon mal gesagt, so fünf bis zehn Jahre vorweg. Viele werden es nicht überleben, wir reden jetzt schon über 180.000 Unternehmen, die vor die Hunde gehen werden, ich drücke es mal ziemlich krass aus. Und all diese Beruhigungspillen, die durch Politik vergeben werden, dass die Arbeitslosenquote nicht nach unten rutscht, ist ja, die kann nicht nach unten rutschen, weil ja alle in Kurzarbeit sind. Pleiten gibt’s noch nicht, weil die Insolvenzpflicht ausgesetzt ist. Und die Insolvenzpflicht jetzt von Monat zu Quartal weiter nach hinten zu verschieben, jetzt sind wir schon im April 2021, verlagert das Problem ja nur, dass spätestens im Mai, in der dritten Woche, drei Wochen haben die Unternehmer Zeit dann, ihrer Pflicht nachzukommen, dass spätestens im Juli etliche vor die Hunde gehen.

Klaus Weßendorf: Glaubst du, es wird noch mal verlängert bis zur Bundestagswahl im September?

Peter Giesen: Mit Sicherheit. Kann ich mir gut vorstellen, da sind wir halt wieder bei politischen Entscheidungen. Und diese Lobbyarbeit von vielen anderen Unternehmen und Branchen, also wirklich, mich freut es manchmal um die Gastro, dass die 75 % des Vorjahresgehalts, äh …

Klaus Weßendorf: Des Umsatzes.

Peter Giesen: Umsatzes.

Klaus Weßendorf: Gleich Gewinn, Umsatz.

Peter Giesen: Wie geil ist das denn. Und keine Kosten dagegen, das ist ja, also wirklich, ich gönne es der Gastronomie. Reisebranche und es sind ja so viele gerade in Mitleidenschaft gezogen. Die Frage ist halt immer, wie ich mich da zu positioniere. Ich habe mir sehr stark, sehr bewusst die Gedanken gemacht: Was mache ich mit diesem Video? Wenn da ein Sarg auf einmal steht und eine Grabrede gehalten wird. Dass das polarisiert, völlig außer Frage. Will ich ja. Weil hätte ich da einfach nur ein Schild hochgehalten, hätte sich da keine Socke für interessiert.

Klaus Weßendorf: Richtig. Ich habe es zehn Minuten geguckt und es war kurzweilig, ich hätte es sonst nicht gemacht. Stimmt.

Peter Giesen: Genau. Es war alles einmal drin…

Klaus Weßendorf: Es war keine Anklage. Es war ganz dezent drunter.

Peter Giesen: Darum geht’s nicht. Aber ich weiß, dass wir Kundinnen und Kunden, wir Konsumenten, nicht so handeln wie wir normalerweise handeln sollten. Wir sind schizophren. Die Tagesschau strahlt abends aus: Den Milchbauern geht’s dreckig, die werden ausgebeutet. Den Schweinebauern und den Rinderbauern sowieso. Preisdumping, Subventionen durch EU werden gestrichen. Und ich weiß nicht, was da alles. Wir regen uns darüber auf, wir erklären uns solidarisch: Mensch, der Milchbauer, der muss doch seinen Euro für den Liter bekommen und das Fleisch muss mindestens jetzt 5 Euro mehr kosten.

Klaus Weßendorf: Also der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach.

Peter Giesen: Nächsten Tag: Jeder Discounter dann, irgendwie mit 49 Cent lockt er die Kunden in seinen Laden und die Kunden kaufen das Schweinefleisch für 1,99. Yo! Billig. Und die Milch noch für 49 Cent dazu. Wie bekloppt ist das denn bitte schön? Entschuldigung!

Klaus Weßendorf: Cut an der Stelle. Danke!

Peter Giesen: Jetzt bin ich gerade so „Wumm!“

Klaus Weßendorf: Wunderbar! Ich liebe das. „Wessi´s Digitalk“. Du hast das Ganze jetzt gefilmt, wunderbar. Und dann kommen wir auf die Kanäle. Wie hast du Social Media verbreitet?

Peter Giesen: Okay! Ich hab‘s einmal im Querformat und einmal im Hochformat gedreht. Also es gibt zwei Versionen, weil ich wollte, dass es auch auf YouTube, dass es auf Facebook und dass es auf Instagram läuft. Interessanterweise, da sind wir mal bei der Community: Instagram sehr wertschätzend. 99,5 % durchweg positive Kommentare, Solidarität und klasse gemacht und endlich mal. Müsst ihr drauf aufmerksam machen. Und der eine Kommentar …

Klaus Weßendorf: Witzig! Das Gleiche hat Mickie Krause damals auch gesagt. Instagram wertschätzend, da kriegst du keine Kritik.

Peter Giesen: Genau. Und ein Kommentar ziemlich neutral: Mensch! Du handelst doch auch mit Amazon, was soll denn das? Und dann bin ich aber auch sehr direkt darauf eingegangen.

Klaus Weßendorf: Ein einziger, ne?

Peter Giesen: Ein einziger.

Klaus Weßendorf: Das waren fast 300, wie ich gesehen habe.

Peter Giesen: Ja, ein einziger. Und dann bin ich interviewt worden von einigen Zeitungen, Westfälische Nachrichten, die haben mich dann angerufen. Und die haben mich darauf aufmerksam: Ja, bei Facebook, da stehen ja schon ziemlich harte Kommentare. Ich sage: Ja? Habe ich noch gar nicht reingeguckt. Und dann habe ich mir die Mühe gemacht, was heißt Mühe, ich wollte einfach mal schauen, was die Menschen da so schreiben: Respektlos, geschmacklos, pietätslos. Wie können Sie nur? Absolute Frechheit. Und das machten, glaube ich, 90 % aus.

Klaus Weßendorf: Okay!

Peter Giesen: Und die restlichen 10 % haben gesagt: Ja, aber guck doch mal auch von einer anderen Sichtweise. Anders geht’s halt nicht. Also blöderweise, es gibt einen schönen Satz: Aufmerksamkeit ist die neue Währung. Und das ist so. Hätte ich mich da einfach nur in einem schwarzen Mantel hingestellt und hätte eine Grabrede gehalten ohne Sarg, ohne irgendwie die Szenerie darzustellen, wie gesagt, würde sich da niemand interessieren. Und deswegen will ich auch diese Kommentare haben. Weil das sind meistens die Menschen, die Popcorn fressend auf ihrer Couch sitzen, es immer besser wissen als der Schiri, der da gerade unten am Fußballfeld steht, und immer der Meinung sind, von oben auch mit dem Zeigefinger auf andere irgendwo noch Kommentare nieder zu schreiben. Ist sowieso nicht meine Welt. Die möchte ich auch nicht in meinem Dunstkreis haben. Aber ich finde schön, dass ich polarisiere dadurch.

Klaus Weßendorf: Also du hast dir was von der Seele geschrieben, gesprochen, mit dem Video?

Peter Giesen: Ja, definitiv.

Klaus Weßendorf: Und du würdest auch trotz der Kommentare bei Facebook das immer wieder machen?

Peter Giesen: Jederzeit, im Gegenteil, ich würde sogar noch ein Stückchen weitergehen wahrscheinlich.

Klaus Weßendorf: Super! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie oft das aufgerufen wurde?

Peter Giesen: Nein.

Klaus Weßendorf: Dass es zum Beispiel auch bei Telegram von Leuten, die 100.000 Follower haben, geteilt wurde?

Peter Giesen: Finde ich schön.

Klaus Weßendorf: Wunderbar!

Peter Giesen: Nein. Also es geht mir nicht darum, um überhaupt Werbung zu machen dafür, für meinen Laden. Überhaupt nicht. Sondern einfach auf die Situation zu blicken, dass das nicht in Ordnung ist. Und wenn Menschen das zum Anlass nehmen und das teilen, weil sie diese Botschaft, diese Message gut finden, für die gesamte Branche, dann finde ich es mega. Also ist schön, dass es dann so viral gegangen ist mit vielen hunderttausend.

Klaus Weßendorf: Ja, ich finde es auch mega. Schön, dass du so polarisierst. Mir macht‘s Freude. Und wie gesagt, das Video würde ich auf jeden Fall mir anschauen. Peter, wenn wir in zwei Jahren hier sitzen, was für ein Video hast du dann gerade gedreht?

Peter Giesen: Die Auferstehung. Wie auch immer ich die in Szene setze. Ich würde mir zumindest wünschen, dass wir solche Videos nicht drehen sollten mehr oder müssen, – ich mag das Wort müssen, dürfen eher – sondern dass wir etwas Positives berichten. Wenn wir sagen, Mensch, wir haben einfach aus dieser Situation auch lernen dürfen. Wir haben einfach daraus etwas mitnehmen dürfen. Weil alles hat einen Sinn. Und auch das wird einen Sinn haben. Und wenn wir das erkennen und uns anders positionieren und unsere Werte dementsprechend positionieren, dann kann ich mir vorstellen, dass wir supergut da auch rauskommen.

Klaus Weßendorf: Ja, schönes Schlusswort. Vielen Dank, Peter! Ich hoffe, es hat auch für euch einen Sinn. Ich hoffe, ihr nehmt was damit mit. Und abonniert gerne, schaut wieder rein, hört wieder rein, wenn es heißt „Wessi´s Digitalk“. Mein heutiger Gast, Peter Giesen. Danke Peter!

Peter Giesen: Danke!

Klaus Weßendorf: Und alles in Szene gesetzt, du kannst die Füße wieder hochlegen. Ciao! Munter bleiben! Euer Wessi.

Peter Giesen: Danke schön!